Samstag, 26. Oktober 2013

Der Geist des Ortes – Religion in Timor-Leste



Als wir zurückkommen, erwartet uns zu unserer Ãœberraschung Flaviano im Guest-House. Flaviano ist der Leiter des Jugendzentrums in Baucau und er hat noch einen Bekannten, Agostino, dabei. Pia vermutet, dass er neugierig ist und die Fremden aus Deutschland näher kennen lernen will. Wir laden die beiden zum Essen ein, aber die Platten mit Reis, Gemüse, Fleisch, Salat, die für uns vorbereitet sind, reichen nicht so recht für alle. Wir bestellen mehr und erleben eine etwas genervte Gastgeberin, die jetzt nochmal kochen muss. Sie tut es und ich häufe Flaviano noch richtig viel Essen auf den Teller und alle lachen, weil er sich wehrt. Mir kommt es so vor, als hätte er sich nicht getraut, sich zu bedienen, weil er vielleicht fürchtet, dass er das Essen bezahlen muss. 

Nach dem Essen gehen wir Richtung Badeplatz. Ein bisschen oberhalb ist eine Aussichtsplattform und Flaviano und Agostino wollen unbedingt dort bleiben, nicht ans Wasser gehen. Ich leiste ihnen Gesellschaft, wir plaudern über deutsche Autos, öffentlich-rechtlichen Rundfunk bei uns, über die trübe Zukunft Timor-Lestes, weil Beamte in Dili den ganzen Tag Computerspiele spielen, weil sie nicht wissen, was sie zu tun haben. Er erzählt, dass seine Eltern ihn als Kind mehrere Jahre am Matebian, einem heiligen Berg, versteckt haben, weil während der Besatzungszeit Kinder verschwunden sind. Später haben sie ihn zu Verwandten nach Dili gebracht. Nach seinem Studium in Jakarta hat er als Volunteer in der Community Jugendarbeit gemacht und ist später als Jugendzentrumsleiter angestellt worden. Wir sprechen natürlich Englisch und ich muss mich sehr anstrengen, ihn zu verstehen. Keinesfalls will er mit zum Wasser kommen, denn das ist ein „MässikPläis“. Ich verstehe nichts. MässikPläis? Ah, vielleicht Magic Place? Magischer Ort? Pia kommt und wir fragen gemeinsam. Langsam, ganz langsam rückt Flaviano mit der Sprache heraus:
Der Fluss ist ein Heiliger Platz und es kann gefährlich sein, solche heiligen Orte aufzusuchen. Man kann krank werden oder es können Unglücke geschehen, wenn Unbefugte Heilige Plätze betreten. Eigentlich ist es ein guter Ort, aber heilige Orte sind eben immer auch gefährliche Orte. Es gibt viele solcher Plätze in Timor-Leste, die gleichzeitig heilig und gefährlich sind. Das gilt allerdings nicht für uns Malae, für uns Ausländer. Heilige Orte dürfen nur Menschen aus der Community des Ortes betreten. Deshalb hat Flaviano Agostino mitgebracht, der aus LoiHunu stammt. Für Timorer ist es nicht üblich, irgendwohin zu fahren, um irgendetwas zu besichtigen. Die Community fragt dann: „Was willst Du hier“. So muss es auch gewesen sein, als Flaviano und Agostino am Guesthouse angekommen sind. Erst als sie erklärt haben, dass sie uns besuchen wollen, war das O.K.. Die beiden Männer sprechen sehr leise, sind sichtlich angespannt, fühlen sich unwohl an diesem Platz. Irgendwann lassen sie sich überreden, doch mit zum Wasser zu kommen, aber froh sehen sie nicht aus. 

Noch wunderlicher ist, was Flaviano dann erzählt. Wenn Leute in ländlichen Gebieten eine Malae im hellen Sonnenlicht sehen, ähnelt der so sehr den Statuen in den Kirchen, dass die Leute denken, sie hätten eine Erscheinung. Davon dürfen sie nicht weiter erzählen, sonst könnten sie krank werden oder sterben.
Priester gehen in Timor-Leste zum Teil mit ihren Gemeinden an heilige Orte, um dort Schalen mit Essen für die Geister abzustellen. Katholizismus und der alte Geisterglaube mischen sich. Die traditionelle Religion Timors war bis ins 20.Jahrhundert der Animismus. Tieropfer wurden den Geistern der Ahnen und den Geistern, die in Wäldern, Steinen und Gewässern leben, dargebracht. In vielen Dörfern sehen wir UmaLuliks. Das sind Häuser für die Ahnen. Sie stehen auf Stelzen in der Nähe der Wohnhäuser und sehen durchaus noch benutzt aus.
Durch Flavianos Geschichten verändert sich der Platz am Wasser für uns. Wo wir gestern noch ausgelassen gekreischt und geplanscht haben, sind wir heute fast ehrfürchtig und haben das Gefühl, vorher zu  laut gewesen zu sein. 

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